Die Lebenden. Ein Film von Barbara Albert. Kinostart: 30. Mai 2013 - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Kunst + Kultur



AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 27.05.2013


Die Lebenden. Ein Film von Barbara Albert. Kinostart: 30. Mai 2013
Sabine Reichelt

Eine Enkelin setzt sich mit der nationalsozialistischen Täter-Vergangenheit ihres Großvaters auseinander und sucht dabei den eigenen Umgang mit der Schuld ihrer Familie. Gegen den Willen ihres...




... Vaters reist sie durch Europa und entdeckt Erschreckendes.

Welche Verantwortung haben die Nachkommen von NS-Täter_innen? Wie können sie mit der Schuld ihrer Familie umgehen? Und kann mensch den eigenen Vorfahren verzeihen? Das fragt sich Sita (Anna Fischer), Mitte 20, Studentin in Berlin, nachdem sie am 95. Geburtstag ihres Großvater durch Zufall erfährt, dass dieser unter Hitler SS-Untersturmführer und von 1943 bis 1945 Wachmann in Auschwitz war. Der Schock sitzt tief, kann sie den von ihr so geliebten älteren Herrn und Musikliebhaber doch nur schwer in Verbindung bringen mit den unfassbaren Verbrechen, von denen sie aus Geschichtsbüchern, Vorlesungen, Filmen und Dokumentationszentren weiß.

Sita begibt sich auf die Suche: nach der Geschichte ihres Opas und ihrem eigenen Platz in der Welt. Eine unruhige Handkamera folgt ihr. Die Protagonistin versucht zu verstehen, wie ihr Großvater zum Täter werden konnte. Ihr Vater (August Zirner) ist ihr dabei keine große Hilfe, hat er sich doch selbst jahrzehntelang in Verdrängung geübt. Von ihm bekommt die Tochter nur die immer gleichen und altbekannten "Entschuldigungsargumente" zu hören: Ihr Großvater hätte natürlich nicht aus Überzeugung gehandelt, sei naiv gewesen, hätte ja schließlich keine andere Wahl gehabt und überhaupt sei man als Siebenbürger Sachsen selbst verfolgt worden.

Ihre Recherchen führen die junge Frau von Wien, über Warschau und Auschwitz bis nach Rumänien in das Heimatdorf ihrer Großeltern. So ist Sita ständig unterwegs, bewegt sich mit ihrem Moped und joggend durch Berlin und die Bewegung selbst wird zu einem Leitmotiv des Films. Durch die Augen der Enkelin erfährt die Zuschauerin, dass ihr Opa in Auschwitz außerdem Musik- und Religionslehrer war und für Rudolf Höß persönlich Klavier spielte. Der einzige Kommentar des Täters dazu: "Man musste sich ja irgendwie ablenken." Fassungslos sitzen Protagonistin und Zuschauerin vor Videobändern, in denen der Großvater rückblickend erklärt: "Ich fühle mich überhaupt nicht schuldig."

Für ihn scheint klar, dass seine Schuld durch das persönliche Leid, das er im Nachhinein ertragen hat, längst abgegolten ist: "Wir sind später genug bestraft worden." Der Großvater hat seine Tätervergangenheit beinahe von sich abgespalten: "In Auschwitz, da hab ich geglaubt, nur zu träumen. Das war nicht ich, das war ein anderer. Ein Gespenst war dort."

Ein Nebenstrang der Handlung ist die konventionell erzählte Liebesgeschichte zwischen Sita und dem israelischen Fotografen Jocquin (Itay Tiran), die leider weder besonders spannend ist, noch neue Blickwinkel auf die Themen des Films erlaubt. Weitere kleine Episoden sollen eine Brücke in die Gegenwart und das heutige Europa schlagen und, so die Regisseurin Barbara Albert, fragen: "Wo beginnt Menschenverachtung? Wo führt sie hin? Wer sind die Täter, wer die Opfer heute?" In Warschau trifft die Protagonistin auf die Aktivistin Silver (Daniela Sea, bekannt vor allem als Max aus "The L Word" und als Soldatin Calvin aus "Itty Bitty Titty Committee") und setzt sich mit ihr gegen die Räumung eines besetzten Hauses ein. Als Praktikantin beim Fernsehen interviewt Sita eine junge Tschetschenin und ihren Bruder, die als Waisen in Deutschland Asyl suchen. Eine wirkliche thematische Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart entsteht dadurch aber nicht. Die Episoden sind zu kurz oder wirken sehr konstruiert.

Das gilt leider auch für die Dialoge, die beinahe alle im Zeichen von Sitas Recherche stehen, so vor allem Mittel zum Zweck sind und deshalb wenig natürlich klingen. Während Musik (das Spektrum reicht hier von Purcell über Schubert bis hin zu SOAP&SKIN) und Poesie zwei weitere gelungene Leitmotive des Films sind, ist die Metapher vom gebrochenen Herzen, die letztendlich beinahe wörtlich verstanden werden kann, kitschig und nicht gerade innovativ.

Zur Regisseurin: Barbara Albert wurde 1970 in Wien geboren. Sie studierte Theaterwissenschaft, Germanistik, Publizistik, Regie und Drehbuch. Neben ihrer Arbeit als Regie- und Schnittassistentin spielte sie als Schauspielerin unter anderem in "Memory of the Unknown" und "Crash Test Dummies". Ihren international erfolgreichen Kurzfilmen folgte der erste Langspielfilm "Nordrand, der 1999 bei den Filmfestspielen in Venedig gezeigt wurde. Im selben Jahr gründete Barbara Albert gemeinsam mit Martin Gschlacht, Jessica Hausner und Antonin Svoboda die Produktionsfirma coop99. Sie war u.a. Co-Autorin preisgekrönter Filme wie "Grbavica" oder "Das Fräulein". Außerdem schrieb sie das Drehbuch zum Spielfilm "Auswege". Als Produzentin war Barbara Albert mitverantwortlich für "Darwin´s Nightmare", "Die fetten Jahre sind vorbei" und "Schläfer". Daneben war (und ist) sie als Gastprofessorin und Lektorin an mehreren Hochschulen in Österreich und Deutschland tätig. (Informationen des Verleihs)

Zur Hauptdarstellerin: Anna Fischer wurde 1986 in Berlin geboren. Sie ist im Fernsehen mit ihrer Darstellung ungewöhnlicher Figuren aufgefallen und hat dafür in den letzten Jahren mehrere Preise erhalten: 2009 den Deutschen Fernsehpreis als beste Nebendarstellerin in "Wir sind das Volk", ebenfalls 2009 den Adolf-Grimme-Preis für die beste Hauptrolle im Mehrteiler "Teufelsbraten". 2006 wurde sie auf dem Max-Ophüls-Preis Filmfestival entdeckt; sie erhielt dort den Preis als beste Nachwuchsdarstellerin in "Liebeskind. Anna Fischer spielte außerdem u.a. in "Heiter bis wolkig", "Wir sind die Nacht" und "Unter Strom". (Informationen des Verleihs)

AVIVA-Fazit: Wirklich neue Sichtweisen und Fragen kann der Film trotz der Enkelinnenperspektive leider nicht bieten. Deutlich wird, dass Wissen der erste Schritt zur Verantwortung ist und wahrscheinlich wird die Protagonistin nun "mit einer anderen Haltung durchs Leben gehen und Entscheidungen anders und bewusster treffen als davor", wie Barbara Albert es im Interview mit profil formulierte. Ob es allerdings möglich ist, Zusammenhänge zu hinterfragen – das selbsterklärte Ziel der Regisseurin – ohne auf die ideologischen Grundlagen des Nationalsozialismus wie Antisemitismus, Nationalismus und Rassismus einzugehen, bleibt fraglich.

Die Lebenden
Österreich, Polen, Deutschland 2012
Drehbuch und Regie: Barbara Albert
Darsteller_innen: Anna Fischer, Hanns Schuschnig, August Zirner, Itay Tiran, Daniela Sea, Winfried Glatzeder, Almut Zilcher
Kamera: Bogumi³ Godfrejów
Schnitt: Monika Willi
Ausstattung: Enid Löser
Kostümbild: Veronika Albert
Maskenbild: Martha Ruess
Ton: Dietmar Zuson
Musik: Lorenz Dangel
Produktion: Bruno Wagner, Barbara Albert
Länge: 112 Minuten
Verleih: RealFiction
Deutscher Kinostart: 30. Mai 2013
www.dielebenden.at
www.youtube.com

Weitere Informationen:

Barbara Albert: "Mittlerweile schäme ich mich nicht mehr", Interview mit profil (2012)

Barbara Albert: Mein SS-Großvater war kein Monster, Interview mit Die Presse (2012)

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Böse Zellen (Drehbuch und Regie Barbara Albert, 2004)

Wir sind die Nacht (mit Anna Fischer, 2010)

Karin Weimann - Sisyphos´ Erbe. Von der Möglichkeit schulischen Gedenkens (2013)

Hilde Schramm - Meine Lehrerin, Dr. Dora Lux. 1882-1959. Nachforschungen (2012)






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Beitrag vom 27.05.2013

Sabine Reichelt